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Und Frankl hat doch recht, aus der modernen Depressionsforschung
Seltsamerweise stammt der Satz: „Existenz ist nicht analysierbar“ vom Begründer der „Existenzanalyse“, Viktor E. Frankl. Natürlich hatte er Recht. Bedeutet doch „analysieren“ laut Duden: etwas (wissenschaftlich) zergliedern, zerlegen, untersuchen, auflösen. Existenz, philosophisch verstanden als die dem Menschen (und nur dem Menschen) gemäße Seinsweise, ist jedoch Einheit und Ganzheit; weder zergliederbar noch zerlegbar, nur äußerst begrenzt untersuchbar und auch nicht auflösbar. Was hat es also mit dem Begriff der „Existenzanalyse“ auf sich?
Wir müssen diese Angelegenheit aus dem historischen Blickwinkel betrachten. Frankl hatte Schwierigkeiten mit dem „Taufnamen“ seines geistigen Kindes. 1926 fiel ihm dazu das Wort Logotherapie ein. Sicher dachte der damals 21jährige nicht daran, dass die Ähnlichkeit zum Fachausdruck Logopädie in der Bevölkerung zu Missverständnissen und Verwechslungen führen werde, mit denen Generationen von Logotherapeuten später zu kämpfen haben würden. Wahrscheinlich war die Sprachheilkunde Anfang des 20. Jahrhunderts noch wenig entwickelt und wenig bekannt. „Logotherapie“ war an sich ein passender Namensentwurf, denn die Frage nach dem Sinn, dem „Logos“, spielt ja in der von Frankl geschaffenen Therapieform eine große Rolle.
Im Prinzip wäre die „Taufe“ damit vollzogen gewesen. Doch etwas beschäftigte den Arzt und Psychiater Frankl bis weit in die 1930er Jahre hinein. Es war die Zeit, in der Sigmund Freud weltweit zum
Star seiner Branche aufstieg. Die Psychoanalyse geriet zum Modehit und war in aller Munde. Frankl kannte Freud persönlich, war in jungen Jahren von ihm geschätzt und protegiert worden, und hatte
sich trotzdem aus wohl überlegten Gründen von dessen Lehre abgewandt. Das muss eine heftige innere Auseinandersetzung in ihm bewirkt haben. Es wurde zu Frankls Herzensanliegen, die „Erniedrigung“
des Menschen, der in Freuds Modellen reduktionistisch auf die psychophysische Ebene hinunterprojiziert wurde, rückgängig zu machen und das Bild des Menschen in seiner (auch) geistigen
Dimensionalität wieder „hochzufahren“.
„Wo ist jene therapeutisch interessierte Psychologie, die diese ‚höheren’ Schichten menschlicher Existenz in ihren Aufriss einbezöge und in diesem Sinn und im Gegensatz zum Worte von der ‚Tiefenpsychologie’ den Namen ‚Höhenpsychologie’ verdiente?“ schrieb Frankl 1938 im „Zentralblatt für Psychotherapie“ und kreierte damit einen weiteren „Taufnamen“. (Viktor E. Frankl, „Logotherapie und Existenzanalyse“, Piper, München, 1987, Seite 18)
Aber der Ausdruck Höhenpsychologie hat sich im Unterschied zum Ausdruck Tiefenpsychologie nicht durchgesetzt. Im populären Sinne konnten sich die Leute unter Tiefenpsychologie
etwas vorstellen: das Aufdecken tiefliegender Bewusstseinsschichten, das Schürfen nach verborgenen Emotionen und Sehnsüchten, die Suche nach verdrängten Traumen etc. Beim Terminus
Höhenpsychologie versagte hingegen ihre Vorstellungskraft.
Doch zurück zum unheilschwangeren Jahr 1938. Wir merken an der Inbrunst des obigen Zitates, dass Frankl einen echten Kontrapunkt, einen klaren Gegenpol zur Psychoanalyse
etablieren wollte, und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch semantisch. Statt Tiefe – Höhe! Und in der Folge: statt Psychoanalyse – Existenzanalyse! Denn im Folgetext heißt es:
„Wo ist, mit anderen Worten, jene Theorie vom schlechthin seelischen und im Besonderen vom neurotischen Geschehen, die über den Bereich des Psychischen hinauslangend die gesamte menschliche
Existenz, in all ihrer Tiefe und Höhe, berücksichtigte und demgemäß als Existenzanalyse bezeichnet werden könnte?“
Der nächste „Taufname“ war geboren.
Der psychotherapeutische Theorienkomplex Frankls, der sich auf die Gesamtheit der menschlichen Existenz erstreckt, sollte also die Psychoanalyse ergänzen wenn nicht gar ablösen. Frankls Warnruf
lautete: Gebt Acht! Die Psyche ist nur ein Teil menschlicher Existenz! Bloß hing am Wort „Psyche“ das Beiwort „-analyse“ dran, und jetzt hing aus Kontrastgründen dieses Beiwort auch am Wort
„Existenz“ dran. Frankl rang um Definitionspräzision. Noch im selben Aufsatz schrieb er:
„…in Form eben einer Existenzanalyse, die ausgeht vom unleugbaren Urtatbestand menschlicher Verantwortlichkeit als Wesen menschlicher Existenz und abzielt auf nicht mehr und nicht weniger als die
restlose Anerkennung dieses Tatbestandes seitens des Kranken …“ (Viktor E.
Frankl, „Logotherapie und Existenzanalyse“, Piper, München, 1987, Seite 26)
Er verdeutlichte, dass zur menschlichen Existenz – im Unterschied zu psychischen Vorgängen – die (Willens-)Freiheit dazugehört, die die menschliche Verantwortlichkeit nach sich zieht. Damit hat
er die Existenzanalyse als den theoretisch-anthropologischen Unterbau etablieren wollen, auf dem die angewandten Methoden der Logotherapie aufbauen. Genaugenommen ist ihm mit seiner
Existenzanalyse aber kein echtes Pendant zur Psychoanalyse gelungen, weil diese Theorie plus Praxis umfasst und sich nicht – wie nunmehr Frankls Ansatz – in zwei Begriffe aufspaltet.
Nach der Kriegskatastrophe, als Frankl ins „normale Leben“ zurückkehrte huldigte er immer noch der Idee, der Psychoanalyse mit Gegenargumenten wehren zu müssen. In seinem Buch „Der unbewusste Gott“ ging Frankl mit Freuds Konzept des Unbewussten ins Gericht. 1959 schrieb er im „Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie“:
„Der Existenzanalyse zufolge gibt es nicht nur unbewusste Triebhaftigkeit, sondern auch unbewusste Geistigkeit; mit anderen Worten: wir kennen und anerkennen nicht nur ein triebhaft
Unbewusstes, sondern auch ein geistig Unbewusstes, und der Logos, den die therapeutische Ausgestaltung der Existenzanalyse, die Logotherapie, so sehr zum Woraufhin und Woher ihres Bemühens macht,
wurzelt im Unbewussten, Daran lässt sich ermessen, wie wenig der Logos in unserem Sinne zu tun hat erstens mit der Ratio und zweitens mit dem Intellectus". (Viktor E. Frankl, „Logotherapie
und Existenzanalyse“, Piper, München, 1987, Seite 58)
Wenn man bedenkt, dass 30 Jahre später Alfried Längle Frankl vorwarf, die Logotherapie sei zu rational und zu verkopft, sie vernachlässige die Psyche, man müsse die Gefühle „bergen“, etc. muss man sich angesichts dieser frühen Frankltexte sehr wundern. Hat Frankl jemals Emotionen und Triebe geleugnet? Er behauptete doch nur, dass sie nicht die ganze Geschichte vom Menschen ausmachen. Hat Frankl Verstand und Vernunft überbewertet? Er hat sie doch angesichts des Logos relativiert …
Das Wichtige an der vorhin zitierten Buchstelle aber ist folgendes: Einen Absatz weiter gab Frankl dezidierte Erklärungen zu dem Verwirrung stiftenden „Taufnamen“ seines geistigen Kindes
ab:
„Bei alledem ist Existenzanalyse eigentlich keine Analyse der Existenz; denn eine Analyse der Existenz gibt es ebenso wenig, wie es eine Synthese der Existenz gibt. Vielmehr ist die
Existenzanalyse Explikation der Existenz. Nur dass wir nicht übersehen, dass die Existenz, die Person, auch sich selbst expliziert; sie expliziert sich, sie entfaltet sich, sie rollt sich auf und
zwar im ablaufenden Leben …
Aber Existenzanalyse meint nicht nur Explikation ontischer Existenz, sondern auch ontologische Explikation dessen, was Existenz ist. In diesem Sinne ist die Existenzanalyse der Versuch einer
psychotherapeutischen Anthropologie, einer Anthropologie, die aller Psychotherapie vorgängig ist …“
Das klingt ziemlich kompliziert, meint aber nichts anderes als das theoretische Fundament der Logotherapie. Wobei angemerkt sei, dass gerade das Buch „Der unbewusste Gott“ zeigt, wie eng
Menschenbild und Methoden miteinander verwoben sind, zum Beispiel im Kapitel „Existenzanalytische Traumdeutung“. Geht es doch darin um einer Reihe von Therapiegesprächen!
Als ich in den 1970er Jahren Frankl fragte, ob man nicht schlichtweg von Logotheorie und Logotherapie sprechen könne, wenn er schon Theorie und Praxis trennen wolle, stimmte er mir sofort zu. Zu
diesem Zeitpunkt war der psychoanalytische Stern längst im Sinken, und Frankls Lust am „Gegenpolisieren“ war erloschen. Den Titel meiner Dissertation „Logotherapie als Persönlichkeitstheorie“
akzeptierte Frankl mit Freuden. Dass sich darin Aspekte der logotherapeutischen Anthropologie (Wille zum Sinn, Sinnerfüllung als Motor seelischer Gesundheit …) empirisch bestätigten, freute ihn
natürlich genauso; und das Wort „Existenzanalyse“ stand überhaupt nicht im Raum. Auch als ich 1989 ein Kapitel meiner Buches „Psychologische Vorsorge“ mit „Logophilosophie“ überschrieb, hatte
Frankl keine Einwände gegen diesen Ausdruck.
Auf den zahlreichen Reisen, die Frankl in die USA geführt haben, wurde Frankl zudem mit dem Sachverhalt konfrontiert, dass in der englischen Sprache „existential analysis“ mit Ludwig Binswangers „Daseinsanalyse“ in Verbindung gebracht wurde. Diese Konfusion behagte Frankl nicht. Im englischen wie im deutschen Sprachraum machte sich ferner die Tendenz breit, längere Wortbildungen abzukürzen. Selbst statt „Psychoanalyse“ wurde zunehmend gesagt, jemand mache eine „Analyse“ – und jedermann dachte dabei an Freuds Couch. Eine ähnliche Verkürzung hätte auch dem Wort „Existenzanalyse“ gedroht, was die Konfusion ins Gigantische gesteigert hätte. Kurzum, Frankl neigte allmählich dazu, sich von diesem „Taufnamen“ zu verabschieden.
Doch es kam anders. Alfried Längle, einstiger Fan der Logotherapie, begann mit dieser Altschöpfung Frankls zu sympathisieren. Je mehr Längle Frankl kritisierte und je weiter er sich vom
originären logotherapeutischen Gedankengut entfernte, desto intensiver fixierte er sich auf die „Existenzanalyse“, die er allerdings nach seinem Gutdünken auslegte. Als er bei der Gründung eines
staatlich anerkannten österreichischen Ausbildungsinstitutes dem damaligen Leiter Otmar Wiesmeyr vorschlug: „Behaltet Ihr Euch die Logotherapie – ich behalte mir die Existenzanalyse!“ kam das
Fass zum Überlaufen. Niemand von uns wollte ein Auseinanderdividieren von Frankls genialem Gesamtwerk, egal, wie man es bezeichnet. Frankl selbst flehte Längle an, dessen „variierte“ Lehre – die
nicht mehr mit Frankls Konzeptionen kompatibel war – anders als Logotherapie oder Existenzanalyse zu benennen. Ein Wunsch, der bis heute, fast ein Vierteljahrhundert nach Frankls
Tod, nicht erfüllt wurde.
Dieser Affront hatte zur Folge, dass viele Logotherapieverbände und –Gesellschaften notgedrungen den Begriff „Existenzanalyse“ wieder auf ihre Fahnen geschrieben haben, um nicht ein Originalstück
von Frankl an eine Organisation zu verlieren, die Frankl als „altmodisch“ ausrangiert hat. Vor einem Versanden hätte man den Terminus „Existenzanalyse“ wahrscheinlich nicht gerettet, aber vor
einem Missbrauch wollte man ihn doch bewahren. Ich persönlich glaube trotzdem, dass er ein eher unglücklich gewählter Ausdruck ist, der irgendwann ruhen darf. Da facto wird die Logotherapie
international als ein Gesamtpaket aus würdigem Menschenbild, exzellenter Theorie und effizienter therapeutischer Behandlungsanleitung verstanden – und das ist sie ja auch!
Elisabeth Lukas
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